Wider Angst und Adrenalin:

Implan­tieren – in Zeiten von Corona kontraindiziert?

Der Viro­loge Prof. Dr. Chris­tian Drosten, Cha­rité Berlin hat uns sehr früh die Eck­punkte zur Bewäl­ti­gung dieser Pan­demie an die Hand gegeben:

  1. Es ist eine Durch­seu­chung von 70 % der Bevöl­ke­rung zu erwarten (also deut­lich über 55 Mil­lionen Virus­träger in Deutsch­land!) bis eine Her­den­im­mu­nität eintritt.
  2. Die Aus­brei­tungs­ge­schwin­dig­keit dieser Infek­tion muss ver­lang­samt werden, weil unser sta­tio­näres Gesund­heits­wesen sonst mit der rasant wach­senden Zahl schwerer Ver­läufe hoff­nungslos über­for­dert wäre.
  3. Wirk­samstes Mittel dafür ist die Ver­mei­dung von Tröpf­chen­in­fek­tionen bei zwi­schen­mensch­li­chen Kontakten.

Ab sofort steht uns ein Kom­pen­dium mit Stan­dard­vor­ge­hens­weisen für Zahn­arzt­praxen wäh­rend der Coro­na­virus-Pan­demie des Insti­tuts der Deut­schen Zahn­ärzte zur Ver­fü­gung, das bei­spiels­weise auch von meiner LZÄK (Hessen) sowie anderen ZÄK zur Ver­fü­gung gestellt wird.
→ Kom­pen­dium anzeigen

Die logi­sche und unab­ding­bare Kon­se­quenz dieser Aspekte ist, dass uns dieses Sze­nario über viele Monate begleiten wird. Darum ist schon jetzt klar, dass sehr bald nach dem soge­nannten Shut Down eine schlaue Stra­tegie ent­wi­ckelt werden muss, welche Akti­vi­täten des öffent­li­chen Lebens gefühlt „auf Dauer“ (also viele Monate) aus­ge­setzt bleiben müssen, und welche schritt­weise wieder zur Nor­ma­lität zurück­ge­führt werden können.

Die Situa­tion der sta­tio­nären Ver­sor­gung: In Kli­niken werden der­zeit elek­tive Ein­griffe unter­lassen, um die Valenzen für die Ver­sor­gung schwer erkrankter Pati­enten mit COVID-19 zu ver­viel­fa­chen. Das ist eine rich­tige Ent­schei­dung, da alle Bereiche eines Kran­ken­hauses (Betten, Beatmungs­plätze, Per­sonal etc.) auf den kom­menden Tsu­nami vor­be­reitet werden müssen.

Hinzu kommt, dass eine Klinik auch ein öffent­li­cher Raum ist, in dem sehr viele Men­schen mit ver­gleichs­weise engem Kon­takt zusam­men­kommen. Dabei besteht ein erheb­li­cher Gra­dient der Infek­ti­ons­ver­mei­dung, von „maximal“ im asep­ti­schen OP einer­seits bis zu (bis­lang) „gar nicht“ in der Ein­gangs­halle, in der ohne Schutz­maß­nahmen viele unter­schied­liche Men­schen (geh­fä­hige Pati­enten, wech­selnde Besu­cher, Kli­nik­an­ge­stellte etc.) auf­ein­an­der­treffen. Damit ist klar, dass sich die Struk­turen sta­tio­närer Ver­sor­gung lang­fristig (evtl. sogar dau­er­haft) verändern.

Trotz all dem gilt auch im Zenit der Krise, dass die Ver­sor­gungs­breite nicht nur auf die akut lebens­be­droh­li­chen Not­fälle (Myo­card­in­farkt, Apo­plex etc.) und Unfälle (Trau­ma­to­logie) zurück­ge­fahren wird, son­dern auch soge­nannte „nicht auf­schieb­bare“ The­ra­pien (Onko­logie, Infek­tionen, akut sym­pto­ma­ti­sche Pati­enten) wei­terhin erfolgen.

Die Situa­tion in der ambu­lanten Zahn­me­dizin. Alle diese Aspekte sind sehr wichtig, wenn es um die ambu­lante Zahn­heil­kunde und spe­ziell um die Implan­to­logie geht. Drei Fragen und ange­mes­sene Ant­worten darauf sind hier von zen­traler Bedeutung:

  1. Schaden wir unseren Patienten?
  2. Gehen wir ein unkal­ku­lier­bares Risiko für das Behand­ler­team ein?
  3. Darf in der ambu­lanten Implan­to­logie in diesen Zeiten über wirt­schaft­liche Aspekte gespro­chen werden?

 

Ad 1: Der (vor der Corona-Krise) statt­ge­fun­dene Para­dig­men­wechsel von der „implan­to­lo­gi­schen Kon­tra­in­di­ka­tion“ der 1990er Jahre, der ganze Pati­enten-Kol­lek­tive betraf, zur „per­so­na­li­sierten Implan­to­logie“ der Jetzt­zeit, hilft uns bei der Beant­wor­tung dieser Frage.

Es wäre sicher­lich leicht, ver­schie­dene Sze­na­rien auf­zu­zeigen, bei denen wir durch Implan­ta­tion bzw. Unter­lassen der Implan­ta­tion dem jewei­ligen Pati­enten schaden können. Von zen­traler Bedeu­tung ist dabei – und dies ist wirk­lich neu in der aktu­ellen Situa­tion – bei­spiels­weise die poten­zi­elle Gefähr­dung durch den Hin- und Rück-Weg der Pati­enten von zuhause in die Klinik und durch den Auf­ent­halt in unseren War­te­be­rei­chen. An diese Aspekte denken wir nor­ma­ler­weise unter dem Aspekt „Risi­ko­pa­tient“ nicht!

Ein pas­sendes Sze­nario: Bei einem Covid19-Risi­ko­pa­ti­enten besteht die medi­zi­ni­sche Indi­ka­tion für eine kom­plexe Aug­men­ta­tion (für eine zwei­zei­tige Implan­ta­tion), mit einigen (bis vielen) ambu­lanten Kon­troll­ter­minen. Hier erschließt sich sofort, dass dieser Ein­griff eher auf „die Zeit nach dem Sturm“ zu ver­schieben ist!

Ein anderes Sze­nario: Bei Z.n. erfolg­reich behan­delter Par­odon­ta­l­er­kran­kung und Ver­lust eines distalen Brü­cken­pfei­lers sowie tem­po­rärer Ver­sor­gung durch eine lang­zeit­pro­vi­so­ri­sche Frei­end­brücke steht im Zenit der spon­tanen Ossi­fi­ka­tion und Kor­ti­ka­li­sie­rung die Implan­ta­tion an. Eine Ver­schie­bung dieses Ein­griffs geht mit diversen Risiken für den Pati­enten einher – von Pro­gno­se­ver­schlech­te­rung der mesialen Rest­be­zah­nung bis Invo­lu­ti­ons­atro­phie des Implan­tat­la­gers. Hier spricht mehr für die Implan­ta­tion als sicher pro­gnos­tisch plan­bare Maß­nahme, als dagegen. Im Gegen­satz zu früher werden wir diesen Pati­enten jetzt neben den übli­chen peri­ope­ra­tiven Auf­klä­rungs­in­halten auch Tipps für den Hin- und Rück-Weg (Mund-Nasen-Schutz in öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln etc.) an die Hand geben und – natür­lich – die aktuell sowieso unab­ding­bare Sorg­falt im Anmelde- und War­te­be­reich (Abstand!!!) walten lassen.

Ad 2: Wegen des unmit­tel­baren Kon­taktes zum Gesicht des Pati­enten und dem somit beruf­li­chen Risiko einer Tröpf­chen­in­fek­tion tragen Zahn­ärzte, MKG-Chir­urgen, HNO- und Augen­ärzte (inklu­sive des jewei­ligen Behand­ler­teams) ein deut­lich erhöhtes Infektionsrisiko.

Gefahr löst einen Flucht­re­flex aus. Des­halb ist das emo­tio­nelle Begleit­sze­nario in der Erör­te­rung dieser Frage mehr als ver­ständ­lich. Den­noch: Zu viel Adre­nalin ist manchmal nicht der rich­tige Rat­geber bei Pro­zessen der Ent­schei­dung. Die beson­nene Ana­lyse der wis­sen­schaft­li­chen Daten von Prof. Dr. Zhuan Bian, dem Dekan der School of Sto­ma­to­logy von der Uni­ver­sität Wuhan, die im Dialog mit Prof. Dr. Dr. Bilal Al-Nawas (Mainz) und Prof. Dr. Frank Schwarz (Frankfurt/Main) sowie wei­teren Wis­sen­schaft­lern im → DGI-Web­inar erfolgt ist, lässt – auch in Ver­bin­dung mit den Hin­weisen des Insti­tuts der Deut­schen Zahn­ärzte  → Kom­pen­dium anzeigen – fol­gende vor­sich­tige Schluss­fol­ge­rung zu:

Je genauer wir das tat­säch­liche Risiko ein­schätzen können und je mehr wir ange­passt die indi­vi­duell rich­tigen Sicher­heits­kautelen für das ganze Team wahr­nehmen, desto sicherer kann eine Virus-Über­tra­gung ver­mieden werden.

Diese Schluss­fol­ge­rung unter­scheidet sich mar­kant von pola­ri­sie­renden State­ments von „weiter wie bisher!“ bis „Schlie­ßung aller Praxen!“.

Ad 3: Das Sze­nario um den Ski-Ort Ischgl hat uns alle auf­ge­rüt­telt. Von Tag zu Tag ver­dich­tete sich der Ein­druck, dass aus rein kom­mer­zi­ellen Gründen (Gewinn­sucht!) hier das Risiko einer sich viel­fach mul­ti­pli­zie­renden Aus­brei­tung über ganz Europa in Kauf genommen wurde.

Vor diesem Hin­ter­grund fällt es beson­ders schwer, öffent­lich über finan­zi­elle Aspekte im Gesund­heits­wesen zu reden. Ande­rer­seits wird die pola­ri­sie­rende For­de­rung zur Schlie­ßung aller Zahn­arzt­praxen gerne unmit­telbar mit der For­de­rung nach einem voll­um­fäng­li­chen finan­zi­ellen Aus­gleich ver­knüpft. Auch in dieser The­matik sind Angst und Adre­nalin Weg­be­gleiter der Diskussion.

Fol­gende Aspekte sind hier wichtig: Wenn wir uns ver­halten wie unter Punkt 2 beschrie­benen, ist die Zahn­arzt­praxis bezüg­lich der Pan­demie-Aus­brei­tung ein ver­gleichs­weise sicherer Ort. Wir müssen uns nur an die Regeln halten, viel­leicht alte Gewohn­heiten dabei auf­geben und nicht bei­spiels­weise 40 wech­selnde Pati­enten für eine Stunde in ein enges War­te­zimmer pferchen.

Wird die zahn­ärzt­liche The­rapie ins­ge­samt und indi­vi­dua­li­siert ange­passt – Ver­mei­dung von Aero­solen; Hand­in­stru­mente statt Ultra­schall bei der PZR etc. –, kann die zahn­ärzt­liche Grund­ver­sor­gung auf­recht erhalten werden. Im Dialog mit Schwer­punkt­ein­rich­tungen kann auch die sach­ge­rechte Behand­lung von SARS CoV-2-posi­tiven Pati­enten erfolgen.

Zurück zur Implan­to­logie: Wenn wir unsere Gedan­ken­welt weg von der Idee „ich setze ein Implantat“ hin zu der Über­zeu­gung „ich nehme eine kau­funk­tio­nelle Reha­bi­li­ta­tion vor“ bewegen oder bereits bewegt haben, beant­wortet sich die Frage „Implan­tieren wir aus kom­mer­zi­ellen Gründen?“ von selbst.

Ein Zitat von Max Frisch lautet (sinn­gemäß): „Krise ist Chance, man muss ihr nur den Touch der Kata­strophe nehmen“. In diesem Sinne sollte sich die Zahn­Me­dizin und alle Zahn­Ärz­tinnen und Zahn­Ärzte, in dieser Zeit an den gerne groß geschrieben Mit­tel­buch­staben halten. Auch wenn uns das Adre­nalin in den Adern noch so gerne den Gedanken einer radi­kalen Lösung nahe­legt, sind wir gut beraten, wei­terhin den Weg einer indi­vi­dua­li­sierten und per­so­na­li­sierten Medizin im Bereich von Zahn­me­dizin und Implan­to­logie zu beschreiten. Also: es besteht keine grund­sätz­liche Kon­tra­in­di­ka­tion aus wis­sen­schaft­li­chen Beweggründen!

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz, Wiesbaden
Prä­si­dent des DGI e.V.

Implan­tieren – in Zeiten von Corona kontraindiziert?

Prof. Dr. Dr. Knut A. Grötz, Wies­baden
Prä­si­dent des DGI e.V.

X
X